Aktuelle Forschungen zu Geschichte und Gesellschaft des Kosovo. Internationaler Workshop für Nachwuchswissenschaftler/innen

Aktuelle Forschungen zu Geschichte und Gesellschaft des Kosovo. Internationaler Workshop für Nachwuchswissenschaftler/innen

Organisatoren
Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg; in Kooperation mit dem Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien
Ort
Regensburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.07.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Mady / Edvin Pezo, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg

Zum zweiten Mal nach 2009 fanden sich Anfang Juli 2013 in Regensburg im Rahmen einer „Kosovowoche“ Nachwuchswissenschaftler/innen ein, um sich über aktuelle Forschungen zu Geschichte und Gesellschaft Kosovos auszutauschen. Dafür begrüßte der Gastgeber Ulf Brunnbauer (Regensburg) am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die beiden Organisatoren – Konrad Clewing (Regensburg) und Oliver Jens Schmitt (Wien) – unterstrichen in ihrer Einführung den interdisziplinären Charakter des Workshops. Dieser sollte dazu beitragen, Querverbindungen zwischen den einzelnen Disziplinen zu schaffen und ein Netzwerk der über Kosovo Forschenden zu knüpfen. Insbesondere jedoch sollte der Workshop ein offenes Forum zur inhaltlichen und methodischen Fortentwicklung der auf das neue europäische Land bezogenen Forschung darstellen und dazu beitragen, diese aus einem oft zu einseitig an Konfliktstudien ausgerichteten Fahrwasser zu bringen.

In die Möglichkeiten des fachwissenschaftlichen Diskurses führte CAROLIN LEUTLOFF-GRANDITS (Graz) mit ihrem Eröffnungsvortrag ein. Hierbei beleuchtete sie sowohl wesentliche Aspekte der sozialanthropologischen Forschung im Allgemeinen wie im Speziellen zu Kosovo, wobei sie bemängelte, dass qualitative Langzeitforschungen schwach vertreten seien und es an Arbeiten zu sozialen Praktiken mangele. In ihrer wissenschaftshistorischen Darlegung zur Entwicklung ethnologischer Feldforschungen in Kosovo nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnend mit den 1960er-Jahren, verwies sie auf den lange Zeit dominierenden Forschungsschwerpunkt zur Familienforschung. Neuere Ansätze verortete sie dagegen vor allem in den 1990er-Jahren, als interethnische und interreligiöse Beziehungen in den Fokus rückten. Sie unterstrich zugleich, welchen Einschnitt die Ethnologie mit dem Krieg in Kosovo Ende der 1990er-Jahre erfuhr, der zu einer Reorganisation der Ethnologie führte. Neue Themen rückten in den Vordergrund, so zu Identitätskonstruktionen anhand von Heldenmonumenten oder die Frage nach Eigentumstransfers. Die Perspektiven anthropologischer Forschungen zu Kosovo sah sie insbesondere in einer Verzahnung von nationaler (kosovarischer) und internationaler Forschung, dem Vergleich mit Forschungen aus dem ex-jugoslawischen Raum, in der Langzeitforschung und teilnehmenden Beobachtungen sowie in der Berücksichtigung einer gewissen historischen Tiefe. Mit Blick auf den interdisziplinären Workshop stellte dieser Einführungsvortrag einen idealen Einstieg dar, nicht allein hinsichtlich des ersten Panels zu „sozio-kulturellen Identitäten“, sondern auch in Bezug auf die folgenden Vorträge zu laufenden Dissertationsprojekten. Er verdeutlichte die Möglichkeiten der Kosovo-Forschung und verwies auf die beinahe unabdingbar notwendige Berücksichtigung benachbarter Wissenschaftsdisziplinen.

JOHANNES GOLD (Jena) verdeutlichte dies anhand seiner Untersuchung des Prizrener Bürgertums und der Möglichkeiten und Hemmnisse zu einer lokalen multiethnischen Identität in der Darstellung seines eigenen methodischen Ansatzes. Unter Zuhilfenahme empirischer Feldforschungen sowie historiographischer und politikwissenschaftlicher Ergebnisse möchte er dabei Alltagssituationen Konfliktsituationen gegenüberstellen. Hierbei stellte er die im Weiteren kontrovers diskutierte These auf, wonach eine „ethnisch inklusive“ Stadtidentität zur Beruhigung ethnischer Konflikte beitragen könne. MARIETA SCHNEIDER-KUMPILOVA (Leipzig) widmete sich dagegen einer klar definierten Kleinstgruppe von etwa 150 Tscherkessen, die 1998/99 unter russischer außenpolitischer Ägide aus Kosovo in die im südlichen Russland gelegene Republik Adygeja (Tscherkessien) emigrierten. Als besonders spannend stellte sich die Frage nach der Identitätskonstruktion dieser Gruppe heraus, wobei beide Male, sowohl in Kosovo als auch in Russland – ihrem „Patronagestaat“ – die Kombination von Religion und Sprache als außerordentlich starkes Identitätsmerkmal zur Abgrenzung gegenüber den jeweils anderen und zur Bewahrung der Gruppenidentität fungierte.

Das Projekt von SUSANNE LEITNER (Ludwigsburg) aus dem Bereich der Sonderpädagogik beleuchtet ganz anders gelagert die Lebenssituation und Identitätskonstruktionen aus dem Kosovo stammender, in Deutschland straffällig gewordener junger Männer zwischen 16 und 25 Jahren, die sich vor dem Hintergrund eines unsicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland mit einer eventuellen Abschiebung in den Kosovo konfrontiert sehen. Unter Verwendung psychoanalytischer Ansätze und der Durchführung qualitativer Interviews hinterfragt sie Selbstzuschreibungen, Zugehörigkeiten und Lebenslagen dieser jungen Männer.

Dem in sich schon breiten Untersuchungsfeld der „sozio-kulturellen Identitäten“ fügte das zweite Panel zwei weitere identitätsstiftende Komponenten hinzu, die sich besonders stark in den gesellschafspolitischen Diskursen der letzten Jahrzehnte widerspiegeln: politische Loyalitäten und nationale Identitätsbildungsprozesse. IDRIT IDRIZI (Wien) trug mit der Thematisierung der Wahrnehmung der Kosovo-Albaner im Spiegel der Akten des ehemaligen Archivs der Partei der Arbeit Albaniens (1976-1985) – ein Teilaspekt seiner Dissertation aus der albanischen Zeitgeschichte – eher zum Verständnis des Charakters des Regimes in Albanien und der albanisch-jugoslawischen Beziehungen in Blick auf Kosovo bei. Dabei beleuchtete er unter anderem den Charakter der Beziehungen zwischen albanischen Historikern und Sprachwissenschaftlern beidseits der Grenze. ISABEL STRÖHLE (München) dagegen untersucht in ihrer Dissertation zu (Il-)Loyalität und Herrschaft im sozialistischen Kosovo (1945-1974) einen nach wie vor kontrovers diskutierten Aspekt der Geschichte Kosovos, nämlich die Ausgestaltung jugoslawischer Herrschaftspraxis auf zentraler und lokaler Ebene sowie den Wandel, den diese Praxis über die Jahre hinweg erfuhr. Sie verwies auf die Rolle des jugoslawischen Staatssicherheitsdienstes, die dieser im Gefüge der institutionalisierten Herrschaft einnahm, unterstrich aber zugleich die Widersprüche, die die kosovarische Entwicklung innerhalb der Modernisierungsprozesse im jugoslawisch-sozialistischen Rahmen erfuhr. HANS LEMPERT (Wien) bewegt sich dagegen mit seinem Dissertationsprojekt zur „Albanosphäre“ und dem Aufkommen eines pan-albanischen Nationalismus im 21. Jahrhundert in der Gegenwart. Hierzu stellte er in Regensburg die These auf, wonach die „Stärkung“ albanisch-nationaler Diskurse vor allem auf eine stärkere Positionierung „albanischer Politik“ in der Region zurückzuführen sei. Er plädierte – analog zum Konzept der „Jugosphäre“ – für die Verwendung des Begriffs der „Albanosphäre“, als Kommunikationsraum, anstatt für „Groß-Albanien“, was zum differenzierteren Verständnis albanischer Nationalisierungsdiskurse beitragen solle und bei den Teilnehmern eine rege Diskussion einleitete.

Das dritte Panel „Staatsbürgerschaftliche Teilhabe und politische Steuerungsprozesse von außen“ begann mit der Vorstellung eines Dissertationsprojekts durch die Politikwissenschaftlerin GLEDIS LONDO (Münster), welches die Anwendbarkeit von Forschungskonzepten zur Zivilgesellschaft auf den kosovarischen Fall überprüft. Die Untersuchung geschieht auf einer analytisch-bereichslogischen sowie auf einer normativen Ebene. Die starke Abhängigkeit kosovarischer NGOs von internationaler Finanzierung sowie die besonderen historischen und kulturellen Ausgangsbedingungen ließen die Arbeitshypothese zu, dass allgemeine zivilgesellschaftliche Forschungskonzepte nur bedingt auf Kosovo anwendbar seien. Ein weiteres Dissertationsprojekt stellte HANSFRIEDER VOGEL (Wien) vor. Seinen Analyserahmen bildet die Rollentheorie, deren Modell die Rollen(selbst)zuschreibungen und Rollenunterstützung sowie die darauf basierenden Interaktionen zwischen dem EU-Sondergesandten und der Regierung des Kosovo (Premierminister und Außenminister) aufzeigt. Untersucht wird, wie verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Interessen (EU-27, Internationale Steuerungsgruppe) auf die Rollenkonzeptionen des Sondergesandten und der kosovarischen Regierung einwirken (kognitive Ebene) und wie diese in Rollenhandeln umgesetzt werden (expressive Ebene). Eine Schwierigkeit des Projektes besteht darin, dieses schlüssige Konzept mit geeignetem empirischem Material zu untermauern. Die Verhandlungsprotokolle sind derzeit nicht zugänglich, so dass sich das Projekt im Wesentlichen auf veröffentlichte Quellen und Akteursinterviews stützen wird. Den Abschluss des Panels bildete die Vorstellung eines größtenteils bereits abgeschlossenen Projektes der Pädagogischen Hochschule Zürich, in Kooperation mit dem kosovarischen Ministerium für Bildung und Forschung (MEST), bei dem kosovarische Achtklässler anhand eines umfangreichen Fragebogens nach ihren politischen Einstellungen befragt wurden. BEATRICE BÜRGLER und KAI FELKENDORFF (Zürich) referierten einerseits über die Projektorganisation und die praktische Ausgestaltung der Forschungskooperation mit Wissenschaftlern der Universität Prishtina, sowie andererseits über die vom Fragebogen behandelten Bereiche (Zivilgesellschaft und Systeme; Prinzipien; Teilhabe; bürgerschaftliche Identität). Die Befragung von Schülern im serbisch verwalteten Nordkosovo steht noch aus.

Das letzte Panel des Workshops zu „Sozialer Teilhabe und sozialen Sicherungssystemen“ eröffnete der Vortrag von MICHAEL SAUER (Köln) über soziale Sicherung in Kosovo. Die Bilanz seiner auf der klassischen Institutionenlehre beruhenden Makroanalyse fiel ernüchternd aus: das soziale Sicherungssystem ist erst im Entstehen begriffen, die sozialen Risiken sind auch im regionalen Vergleich sehr hoch, die Sozialausgaben fallen gering aus, Qualität und Reichweite sozialpolitischer Interventionsmaßnahmen sind stark begrenzt und die sozialpolitischen Konzepte werden weitgehend von außen übernommen. Sauer charakterisierte das kosovarische Sicherungssystem als liberal, geprägt von privatem Risikomanagement (Familien) und einem bislang nicht regulierten Markt für Gesundheits- und Bildungsleistungen. Angesichts der schlechten Ausgangslage des Kosovo sei der geringe Ausbau sozialer Sicherungssysteme allerdings kaum verwunderlich, und eine schrittweise Annäherung an das regionale sozialpolitische Niveau sei mittelfristig möglich. Der abschließende Beitrag von TAHIR LATIFI (Graz) über Familie, Geschlechterbeziehungen und soziale Sicherung in Kosovo beruht auf einer im Dorf Isniq durchgeführten Feldstudie. Dabei stellte Latifi einerseits große Veränderungen der Sozialstruktur fest, wie etwa eine fallende Geburtenrate und einen Rückgang komplexer Haushaltsstrukturen (von Mehrfamilienhaushalten), andererseits bestünden patriarchale Sozialstrukturen fort und die Geschlechterungleichheit habe nach 1999 eher zugenommen. Das untersuchte Dorf sei in hohem Maße von den Überweisungen im Ausland arbeitender Familienmitglieder abhängig, und die soziale Sicherung werde in erster Linie nicht als staatliche, sondern als eine Familienangelegenheit wahrgenommen, da die Schwäche des staatlichen Sozialsystems zur Aufrechterhaltung starker familiärer Bindungen zur gegenseitigen Hilfeleistung führe. Die Makroanalyse Sauers und die sozialanthropologische Fallstudie Latifis ergänzten sich in ihren Ergebnissen eindrücklich und lieferten so ein gutes abschließendes Beispiel für die Produktivität des auf der Arbeitstagung verfolgten multidisziplinären Ansatzes.

Im Gesamteindruck ergab sich ein leicht paradoxes Bild. Zwar gibt es im Westen bedauerlich wenige laufende Arbeiten zu genuin historischen Themen über Kosovo. Doch zu seiner Gegenwart entstehen auch eineinhalb Jahrzehnte nach den Kriegsereignissen von 1998/99 auffallend mehr spannende sozial- und kulturwissenschaftliche Studien als zu anderen Regionen auf dem Balkan. Dabei sind es immer noch der Konflikt an sich und die hohe internationale Präsenz vor Ort, die das gesteigerte öffentliche Interesse bedingen. Andererseits ist es ein Grundcharakteristikum der auf dem Workshop vertretenen Studien, sich von den möglichen reduktionistischen Folgen dieser Hintergründe zu lösen. Dass dies methodisch und inhaltlich möglich und gewinnbringend ist, hat das Treffen zur Genüge bewiesen.

Konferenzübersicht:

Öffentlicher Abendvortrag:
Felix Teichner (Marburg): Ulpiana - Iustiniana Secunda – Graçanica/Gračanica. Entstehung, Durchführung und Ertrag eines deutsch-kosovarischen Forschungsprojektes

Einführungsvortrag:
Carolin Leutloff-Grandits (Universität Graz): Stand und Perspektiven der anthropologischen Forschung zur Gesellschaft des Kosovo

Panel I: Sozio-kulturelle Identitäten

Johannes Gold (Jena): Das Prizrener Bürgertum: Möglichkeiten und Hindernisse einer lokalen multiethnischen Identität

Marieta Schneider-Kumpilova (Leipzig): Twice a minority: Kosovo Circassians in the Russian Federation

Susanne Leitner (Ludwigsburg): Ab in den Kosovo? Lebenslagen und Identitätskonstruktionen straffällig gewordener junger Männer mit unsicherem Aufenthaltsstatus aus dem Kosovo

Panel 2: Politische Loyalitäten und nationale Identitätsbildungsprozesse

Isabel Ströhle (München): (Il-)Loyalität und Herrschaft im sozialistischen Kosovo, 1945-1974

Idrit Idrizi (Wien): Die Kosovo-Albaner im Spiegel der Akten des ehemaligen Archivs der Partei der Arbeit Albaniens (1976-1985)

Hans Lempert (Wien): Die Albanosphäre als Konzept zum Verständnis eine pan-albanischen Nationalismus im 21. Jahrhundert

Panel 3: Staatsbürgerliche Teilhabe und politische Steuerungsprozesse von außen

Gledis Londo (Münster): Zivilgesellschaftliche Forschungskonzepte und deren Anwendbarkeit auf die kosovoarische Zivilgesellschaft

Beatrice Bürgler / Kai Felkendorff (Zürich): Politische Einstellungen und Konzepte kosovarischer Jugendlicher. Erkenntnisse aus einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt

Hansfrieder Vogel (Wien): Rollenzuschreibungen und Rollenunterstützung – Kosovo und der Sondergesandte der Europäischen Union, 2008-2012

Panel 4: Soziale Teilhabe und soziale Sicherungssysteme

Michael Sauer (Köln): Soziale Sicherung im Kosovo

Tahir Latifi (Graz): Family, gender relations and social security in Kosovo: five years after independence.

Öffentlicher Abendvortrag:
Skender Xhakaliu (Botschafter der Republik Kosovo): Zweierlei Nachbarschaften. Kosovos bilaterale Beziehungen zu Albanien und zu Serbien


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